Das Wintersemester ist geschafft. Max und ich sitzen im Flugzeug nach Xiamen, dem ersten Stopp auf unserer zweiwöchigen Asienreise.
Das Wetter in Shanghai ist weiterhin unglaublich kalt und auch in Xiamen, in der chinesischen Provinz Fujian, sinken die Temperaturen Ende Januar teilweise unter Null. Xiamen ist eine recht malerische Hafenstadt und profitiert von ihrem Status als Sonderhandelszone. Der Trip von dort zu den Tulou Rundhäusern, dem Grund für unser Interesse an der Gegend, führt durch die Berge zwischen Wäldern und terrassierten Hängen landeinwärts. Die fünf Lehmbauten des Tianluokeng Tulou Cluster – drei kreisrunde und ein ovales Hofgebäude umgeben ein rechteckiges, zentrales – werden jeweils von mehreren Familienclans bewohnt. Ihre meterdicken Lehmwände öffnen sich nur hier und da zu winzigen Fenstern und jeweils nur ein massives Zugangstor führt in den belebten Hof, den Lebensmittelpunkt. Die Tulous mussten ursprünglich Banditenüberfällen widerstehen, daher die ungewöhnliche Architektur: Besonders hebt sie sich von der in China traditionell bei Profanbauten vorherrschenden Holzbauweise ab. Durch die Hanglage ergeben sich Treppen, Wege und Plätze wie in einem Alpendorf – diese Assoziation kann mir allerdings auch durch die Kälte in den Sinn gekommen sein.
Jedenfalls ist das Tulou-Cluster an diesem Ort offenbar seit über 300 Jahren bewohnt, auch wenn die Gebäude teilweise zerstört, wiedererrichtet und jeweils in ihrer heutigen Form nicht vor 1930 erbaut wurden. Seit 2008 sind sie zusammen mit den anderen Fujian Tulous UNESCO Weltkulturerbe und durch Busse touristisch erschlossen.
Von Xiamen nach Shenzhen nehmen mein Zimmerkollege aus dem Wohnheim, Max, und ich den Zug. Shenzhen ist ebenfalls Sonderhandelszone und in direkter Nachbarschaft zu Hong Kong gelegen, was der Stadt in den 80er Jahren zu einem rapiden Boom verholfen hat. Das Ergebnis ist eine 13-Millionen-Einwohner-Stadt, in der die wenigsten tatsächlich aus Shenzhen kommen, denn die Metropole von heute hatte 1979 nur etwa 30.000 Einwohner.
Dieses extreme Wachstum und der Reichtum, den der Handel mit sich brachte, haben unter anderem Weltklasse-Architektur entstehen lassen, von der Shenzhen Stock Exchange von Rem Koolhaas bis zu den Overseas Chinese Town Projekten. Diese OCT Projekte sind eine Mischung aus Wohnen, Gastronomie, Malls und kulturellen Einrichtungen, speziell für wohlhabende Auslandschinesen. In der OCT Bay kann man daher zum Beispiel das OCT Bay Club House von Richard Meier sehen, sowie das OCT Exhibition Center, von dem chinesischen Studio Pei Zhu entworfen. Die Architektur ist ausgesprochen extravagant, von hoher Qualität. Man merkt dem Ort an, dass es hier vor nicht allzu langer Zeit rein gar nichts gegeben hat. Keiner der Passanten war hier wohl schon vor 10 Jahren und nur so kann man sich erklären, dass sie an den absurdesten Objekten vorbeilaufen, ohne sich groß zu wundern. Beispielweise hat das OCT Exhibition Center optisch nur noch wenig von einem Gebäude und viel mehr von einem UFO. Das in etwa linsenförmige Raumschiff sitzt auf einem großflächigen Wasserspiel und ist mit Aluminiumpanelen verkleidet. Auf der dem Platz abgewandten Seite öffnet sich die Fassade zu einem Schlitz, der den Eingang bildet. So etwas fällt einem doch auf, oder nicht?
In Singapur, kaum noch entfernt vom Äquator, ist es endlich warm. Es ist, wie das ganze Jahr, so heiß, dass man den Winter in Shanghai vollkommen vergisst. Die ersten Tage wirkt der NUS Campus, wo wir bei Kollegen aus dem Studium in München schlafen können, wie ein Holiday Resort. Der Eindruck bleibt, bis ab und zu durchscheint, wie viel unsere Gastgeber eigentlich zu arbeiten haben. Die National University of Singapore lässt Kilian und den anderen sechs Münchener Studenten kaum eine Pause und die Kombination aus hohen Bierpreisen und hohen Strafen für Trinken in der Öffentlichkeit beißt sich mit meinen Vorstellungen von einem anständigen Studentenleben. Das ist allerdings Meckern auf sehr hohem Niveau, wenn man bedenkt, dass die Lebensqualität in Singapur mit der im Rest Südostasiens nicht im Geringsten zu vergleichen ist. Die Leute sind höflich, die Metrostationen luxuriös und die meisten Gebäude sind sauber, wie mit der Zahnbürste geputzt.
Das Klima und der hohe Entwicklungsgrad führen dazu, dass in der Architektur scheinbar alles möglich ist. Bis auf die klimatisierten Bereiche gehen die meisten Räume, zum Beispiel die Mensa in University Town, fast nahtlos in den Außenraum über. Immer wieder sieht man ungewöhnliche Projekte, von denen eines bei mir den stärksten Eindruck hinterlassen hat: Die Gardens by the Bay und speziell die Super Trees. In einem öffentlichen Park, direkt hinter dem Marina Bay Sands und der zentralen Bay gelegen erheben sich Bäumen nachempfundene Stahlgerüste bis zu 50 Meter in die Höhe. An ihnen ranken sich tropische Pflanzen empor und in ihrem Inneren sind teilweise technische Anlagen untergebracht. In der Nacht sind sie beleuchtet und werden auch für Veranstaltungen genutzt, denn auf zwei von ihnen kann man mit einem Aufzug hochfahren. Eine völlig unwirkliche Erfahrung, so etwas habe ich vorher nicht gesehen.
Von Singapur aus machen Max und ich einen dreitägigen Umweg über Kuala Lumpur. Hier ist es genauso heiß, allerdings fühlt man sich wieder mehr, wie man es von Südostasien erwartet. Es ist dreckiger und man kann unfassbar günstig wohnen und essen. Obwohl der Islam Staatsreligion ist, kann man gut abends in verschiedenen Bar-Straßen ausgehen. Von den meisten Orten aus kann man entweder den Fernsehturm oder die Petronas Towers sehen, die das unangefochtene Wahrzeichen der Stadt sind. Von 1998 bis 2004 waren sie mit 452 Metern das höchste Gebäude der Welt. Die Zwillingstürme sind in der Tat ein großartiges Photomotiv, mit ihren aus muslimischer, sakraler Architektur entlehnten Spitzen.
Nur der KL118 Tower, der 2020 mit 644 Metern den Fernsehturm und die Petronas-Türmean Höhe übertreffen soll, stört diesen Frieden ein wenig. Allerdings kann man ihn noch kaum erkennen, viel mehr als die Fundamente steht von ihm noch nicht.
Mit Max geht es wieder zurück nach Singapur und weiter nach Hong Kong. Dort treffen wir Daniel, unseren Freund von der Tongji Universität, und Roxana, meine Freundin für die vier letzten Tage unserer Reise. Von Hong Kong bin ich ziemlich begeistert. Von allen Städten, die ich bisher in Asien kennen gelernt habe, halte ich diese für die lebenswerteste. Lamma Island ist eine kleine, paradiesische Insel, die man mit einer Fähre von Hong Kong Central in gerade mal einer halben Stunde erreicht. Der Ausflug dorthin, die Strände, die kleinen Seafood-Restaurants haben mich wahrscheinlich endgültig überzeugt. So schnell kommt man aus dem Zentrum der Metropole in die Berge und auf die Inseln, die man mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreicht: Da kann kaum eine Stadt in Asien mithalten.
Dabei ist die Top-Architektur noch nicht erwähnt, die man auf Hong Kong Island und in Kowloon antrifft. Max und mein Favorit ist der HSBC Tower, ein Entwurf von Foster + Partners. Das Design dreht die traditionelle Struktur eines Büroturms auf den Kopf, in dem es die Geschosse von acht Türmen abhängt. Die herkömmliche Bauweise mit Erschließungskern wird auch umgestülpt, indem Foster ein großes Atrium einführt und die Erschließung außen an den Turm anordnet. Wir stehen jedenfalls über zwei Stunden vor seinem Werk und versuchen uns an die Statik-Vorlesung zu erinnern, in der die Einzelheiten des Tragwerks erläutert wurden.
Wieder in Shanghai angekommen schlafe ich das erste Mal in meiner neuen Wohnung an der Metrostation Tiantong Road, zum Bund komme ich zu Fuß. Nach dieser Reise durch politische Systeme und Klimazonen, wie sie verschiedener nicht sein könnten, fühlt sich Shanghai bei unserer Rückkehr wie ein Zuhause an. Die Türme von Lujiazui wirken vom Dach unseres Wohnblocks nicht außerirdisch und fremd, sondern heimisch.
Das nächste Semester beginnt ganz unspektakulär, die Studentenpartys mit freiem Alkohol sind nicht so überlaufen wie im September und man vermisst das ein oder andere Gesicht auf dem Campus. Ich habe nur vier Fächer gewählt: Intercultural Communication, Chinesisch, die Vortragsreihe Frontier of Digital Design und ein Entwurfsfach, das sich mit der Regeneration eines Wohnblocks im alten Shanghai befasst. Also ein spannender Kurs, der ein Problem aufgreift, das ich im Monatsbrief von Januar schon beschrieben habe: Das blinde Abreißen ganzer Wohnviertel und das Vernichten der Identität der Stadt. Wie letztes Semester werden wir wohl sehr frei arbeiten, allerdings mit engeren Fokus als im Wintersemester. Den Entwurf werde ich zusammen mit einem Studenten der Innenarchitektur aus Stuttgart bearbeiten: auch eine neue, interdisziplinäre Erfahrung für mich.
Langsam wird es Frühling, die Stadt erwacht zum leben. An den Ecken stehen wieder mehr und mehr Straßenverkäufer an den Grills, ich hatte einen wunderschönen Geburtstag mit meinen Freunden und die Stimmung ist gut in Shanghai!
Niklas Heese
Architekturstudent