Alter Wein in neuen Schläuchen?

naumovic VfA Bayern, VfA RP

Alexander Schwab

Das Wort Nachhaltigkeit ist heute in Deutschland und im deutschsprachigen Raum in aller Munde. Architektinnen und Architekten gehen indessen schon weit länger mit dem Begriff um. In der jüngeren Vergangenheit kann man dies an vielen Zertifizierungssystemen für Gebäude ablesen, die weltweit seit den 1990er-Jahren entwickelt und eingeführt wurden.

Seien es LEED (Leadership in Energy and Environmental Design) in den USA, BREEAM (Building Research Establishment Environmental Assessment Methodology) in Großbritannien oder das System der DGNB, der Deutschen Gesellschaft für nachhaltiges Bauen in Deutschland. Doch gibt es davon noch viele mehr.

Hintergrund dieser Entwicklung war einerseits das zunehmende Unbehagen an der Energieverschwend-ung, der Erwärmung des Klimas und den knapper werdenden Ressourcen bei einer gleichzeitig wachsenden Weltbevölkerung, andererseits der Wunsch von Investoren und Firmen, nachzuweisen, dass man im Sinne des Gemeinwohls verantwortungsvoll investiert und handelt.


Die im Zuge der Globalisierung immer längeren Lieferketten und den damit verbundenen Transport-aufwand wollte ma damit ausgleichen, dass man „grüne“ Gebäude errichtet, und dies auch nachweisbar. Bald dehnte sich das auch auf die Produkte aus, die zum Beispiel auf keinen Fall mit Kinderarbeit oder unter menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen hergestellt sein sollten. Hiermit kam der soziale Aspekt der Nachhaltigkeit ins Spiel. Vorreiter waren hier die Supermarktkette Walmart in den USA und die Otto-Gruppe in Deutschland.


Es waren vor allem Architektinnen und Architekten, die diese Entwicklung vorantrieben, da sie die große Chance sahen, Qualität in einem bestimmten Umfang messbar und vermittelbar zu machen. Sie erkannten früh, dass Bauherrinnen und Bauherren damit besser überzeugt werden
konnten, qualitätvoll zu bauen. Denn geringere Kosten für Betrieb, Unterhalt und Instandsetzung machten die Gebäude besser benutzbar, besser vermietbar und besser verkäuflich. Und mit der Zertifizierung ist nicht nur ein Imagegewinn verbunden, sondern sind sogar auch bessere Finanzierungs-bedingungen möglich.

Während der Begriff Nachhaltigkeit dem Ursprung nach aus der Forstwirtschaft stammt und bedeutet, dass man nicht mehr Holz aus dem Wald entnimmt als im gleichen Zeitraum nachwächst, ist er beim Bauen und in der Gesellschaft nur in angelehnter Bedeutung zu verstehen. Im Idealfall würden die Materialien, die wir der Natur für den Bau eines Gebäudes oder irgendeines anderen Produkts entnehmen, nach ihrem Gebrauch, dem sogenannten „Life Cycle“, wieder rückstandslos und schadlos Teil der Natur werden.

Diese Anforderung erfüllten Gebäude bis in das 19. Jahrhundert ganz selbstverständlich, beginnend beim Iglu aus Schnee, über die Tipis der Prärieindianer und die Lehmbauten der Apachen in Südamerika. Aber auch die Tempel der Griechen, ja sogar die gotischen Kathedralen und die
Gebäude in Europa und weltweit möchte ich dazu zählen. Bis dahin bauten Baumeister mit den Materialien, die in einer nahen Umgebung zur Verfügung standen und die über möglichst kurze Wege herbeigeschafft werden konnten. Von Andrea Palladio ist der Satz überliefert, dass er in der
Toskana ein Gebäude aus den Steinen errichten könne, die er auf dem Baugrundstück vorfinde.

Der große Wandel begann mit der Industrialisierung, den Möglichkeiten des Stahlbetonbaus und der Chemie, die immer neue Materialien entwickelte, und der Entwicklung des Transportwesens, das inzwischen ermöglicht, Granit aus China zu günstigen Preisen nach Europa zu bringen. Heute besteht ein Großteil der Gebäude aus künstlichen Baustoffen, die zum Teil mit einem gigantischen Energieaufwand hergestellt werden – Zement oder Aluminium zum Beispiel. In vielen Gebäuden findet man weder Ziegelsteine noch Holz, die früher unsere wichtigsten Baustoffe waren.

Während es dem allgemeinen Verständnis nach beim nachhaltigen Bauen um nachwachsende Baustoffe wie Holz und Bambus, Wolle und Kork sowie natürliche Baustoffe wie Lehm geht, sind die Zertifizierungssysteme viel umfassender angelegt. So bewertet beispielsweise das System der
Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) die ökologische, wirtschaftliche, soziokulturelle und funktionale, technische, prozessorientierte Qualität sowie die Qualität des Standorts eines Projekts. Die Lösung besteht also nicht darin, dass wir nun alle auf Holz setzen und damit neuen Raubbau und neue Monokulturen schaffen, sondern mit regionalen Baustoffen und Bauweisen mit kurzen Lieferwegen
und viel Planungswissen einen Großteil der Bauaufgaben lösen.

Für einen echten Bewusstseinswandel sprechen auch die vielen neuen Wörter, die unseren Wortschatz bereichern. Sei es die „graue Energie“, „Life Cycle Costs“, „zirkuläres Wirtschaften“, „Cradle to Cradle/c2c“ oder „Urban Mining“. Sie alle drehen sich um den Umgang mit Bestandsgebäuden und der Betrachtung des gesamten Lebenslaufs eines Gebäudes bis zu seinem Rückbau. Die graue Energie bezeichnet die Energie, die in einem Gebäude steckt und die aufgewendet werden musste, um die Baustoffe zu erzeugen, auf die Baustelle zu bringen und dort zu verbauen. Würde sie konsequent berechnet, würde sich eine Vielzahl von Abbrüchen und Ersatzneubauten schon aus wirtschaftlichen
Gründen verbieten und die Gebäude saniert werden. Deshalb fordert die Architektenschaft besonders in Deutschland, aber auch europaweit und mit der besonderen Unterstützung der Architects for Future eine Umbauordnung, die diese Aspekte berücksichtigt.

„Goldene Energie.“

Doch neben all diesen technischen und mathematischen Größen bleibt immer noch wahr: Gebäude, die allgemein als schön empfunden werden und auch ihrem Zweck gut dienen, werden gern erhalten. Selbst wenn sie nicht alle Aspekte der Nachhaltigkeit erfüllen, sind sie durch ihre ortsbildprägende und identitätsstiftende Wirkung unverzichtbar. Nun hat man auch dafür ein schönes Wort gefunden – die
goldene Energie. So schwer sie mathematisch messbar sein mag, muss sie ein gewichtiges Argument für den Erhalt eines Gebäudes sein und bleiben.

Alexander Schwab ist Präsident der Vereinigung freischaffender Architekten Deutschlands (VfA) und BFB-Vorstandsmitglied.